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Fotocredits: WORLDSPORTPICS/FRANK UIJLENBROEK

Interview mit Bundestrainer André Henning

„Wir haben große Lust zu zeigen, was wir drauf haben."

23. December 2022

Unser Herren-Bundestrainer André Henning im exklusiven Interview vor der Weltmeisterschaft am 13. Januar 2023 in Indien. Wie ist der Kader zustande gekommen? Was macht das Spiel der Belgier aus? Wie ist die Rollenverteilung im Kader? Trägt Mats Grambusch die Regenbogenbinde? Und was hält der Bundestrainer von politischen Statements im Sport? Fragen über Fragen, die hier beantwortet werden.

Wie schwer ist Dir die Nominierung gefallen?
Um ganz ehrlich zu sein, unheimlich schwer. Eine Nominierung kann vor allem auch ein sehr schöner Tag sein. Das ist der Moment, in dem ein WM-Team geboren wird. Ich habe mich sehr für alle Spieler gefreut, die es direkt in den Kader geschafft haben. Da wurden ganz viele ganz besondere Geschichten geschrieben, von Newcomern über Rückkehrern bis hin zu Etablierten, die es nach langer Pause geschafft haben. Gleichzeitig enttäusche ich am Ende sechs Spieler immens. Jeder von ihnen hätte es grundsätzlich verdient gehabt, ein Ticket nach Indien zu bekommen. Und jungen Menschen zu sagen, dass sie nicht dabei sind, obwohl sie sehr viel richtig gemacht und extrem viel investiert haben, ist kein Vergnügen, vor allem nicht für die Spieler. Nicht jede Entscheidung fühlt sich fair an oder kann sogar fair sein. Gleichzeitig habe ich versucht, so wertschätzend wie möglich die Entscheidung zu erklären und habe Raum für Feedback-Gespräche geboten. Denn klar ist ja: Auch wer jetzt nicht die WM spielt, ist Teil der Honamas und wird Richtung EM und Olympia wieder eine Tür finden, durch die er hindurch gehen kann.

Der 20er Kader steht. Wie schätzt Du eure Team-Struktur ein? 
Die Strukturen sind schon lange gewachsen und nicht von oben vorgegeben. Die nach außen sichtbaren Rollen wie von Kapitän Mats Grambusch und seinem Vertreter Niklas Wellen sind ganz demokratisch vergeben worden. Mats und Niklas sind großartige Führungsfiguren, auf und neben dem Platz. Die Honamas sind kein traditionell streng hierarchisch eingestelltes Team. Grundsätzlich sind Sportteams pyramidal aufgebaut, das heißt, es gibt noch 1-2 Vize-Kapitäne, einen Mannschaftsrat, dann womöglich noch weitere wichtige Rollen und dann ganz unten die vermeintlichen Arbeiter. In unserem Team haben wir eher versucht, Stärken- und Erfolgs-orientierte Rollen einzelner Persönlichkeit herauszufiltern. Also was kann ich eigentlich besonders gut? Wer ist laut und emotional und soll antreiben, wer tritt eher einen Schritt zurück und bringt durch Beobachtung Strategie und Orientierung? In welchen Momenten tritt welche Rolle und Persönlichkeit nach vorne und kann etwas einbringen. Daran haben wir in Spanien schon viel arbeiten können.
Es war durchaus eine Herausforderung im Laufe des Jahres zu verstehen, wie sich feste Muster in den vergangenen Jahren gebildet haben, allein weil sich so viele Spieler seit vielen Jahren kennen, auch lange zusammenspielen und viele gemeinsame Erfahrungen teilen, die ein bestimmtes Verhalten triggern.
Insgesamt habe ich die Mannschaft als neugierig, wissbegierig und offen erlebt. Auch in Konfliktlösungen klar, konfrontativ und wertschätzend.

Wie siehst Du die Entwicklung des Kaders über das Cadiz Turnier? 
Das Turnier war sehr hilfreich. Wir haben vor allem gegen Belgien und Spanien noch mal echte Baustellen aufgezeigt bekommen. Die sind in der Theorie recht simpel lösbar, das kriegen wir bis zur WM also entspannt hin. Gleichzeitig haben die Spiele aufgedeckt, dass wir noch besser darin werden müssen, innerhalb kurzer Zeit schnellere Lösungskompetenzen auf dem Platz und auf der Bank zu entwickeln. Das strategische Vermögen steckt in uns. Das Turnier hat eben auch gezeigt, dass wir in der Konstellation über das Jahr noch sehr wenig zusammengespielt haben. Diese gemeinsamen Erlebnisse sind unbezahlbar. In einigen Bereichen haben wir auch echte Fortschritte gemacht: Die Raumdeckung steht stabil, wir generieren jetzt noch mehr Ballgewinne in von uns vorgegebenen Gewinnzonen. Im Kreis sind wir deutlich gefährlicher geworden und sorgen für mehr Alarm in der Box. Zudem haben wir als eines der wenigen Teams dort sechs Partien in zehn Tagen absolviert, das ist sehr viel. Und das letzte Spiel, vor allem die letzte Halbzeit waren läuferisch unheimlich stark. Das zeigt auch, dass wir Turnier-fit sind.

Was ist Dein Ziel für die WM? Hat das Team das Potenzial, Weltmeister zu werden? 
Ich bin der Überzeugung, dass ein Ziel aus der Mitte der Mannschaft kommen muss, wenn es wirklich mit Überzeugung angegangen werden soll. Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir gegen alle Widerstände bereit sein, extrem für unsere Ziele zu kämpfen. Das funktioniert nicht, wenn wir lediglich externen Aufgaben hinterher dackeln. Am Ende müssen unsere Ziele ohnehin auf unsere Handlungen und unser Verhalten einzahlen. Dabei hilft es nur teilweise, wenn wir Zahlen oder gewünschte Ergebnisse an die Wand malen. Wir brauchen Top-Performance, das können wir beeinflussen, nur das. Dazu zählt die absolute Klarheit und Verlässlichkeit darin, was unsere Jobs sind, wenn es brennt. Wer Weltmeister werden will, muss drei oder vier K.O.-Spiele gewinnen, das heißt, dass dieses Turniersystem eine hohe Widerstandsfähigkeit abfordert.
Letztlich pendeln die Honamas in den letzten drei Jahren in der Weltrangliste zwischen Platz vier und sechs. Wenn man danach geht, wäre das Halbfinale ein Erfolg, zumal der letzte Halbfinal-Einzug 2010 war. Und was ist mein persönliches Ziel? Die Mannschaft so gut coachen, dass wir uns auf dem Rückflug mit Überzeugung in die Augen gucken können, unser Potenzial komplett ausgeschöpft haben. 

Fotocredits: WORLDSPORTPICS/FRANK UIJLENBROEK

Wie geht man das Spiel gegen Belgien an? 
Mutig und gleichzeitig mit einer angemessenen Anspruchshaltung. Wenn du den amtierenden Weltmeister und Olympiasieger herausfordern willst, muss klar sein, dass es auch Phasen gibt, wo du Ball und Gegner nur hinterherläufst. Wir haben traditionell schon eine sehr hohe Anspruchshaltung an uns und unser Spiel. Es ist also auch mal okay, wenn wir die eigene Idee nicht immer durchsetzen, solange wir erfolgreich verteidigen. Wenn du einen Favoriten wirklich stürzen willst, dann musst du zuschlagen, wenn er wackelt. Das braucht eben Mut und vor allem Konsequenz.

Japan und Südkorea habt ihr in Cadiz kennengelernt – was für Spiele erwartest Du bei der WM gegen diese beiden Gegner. 
Das werden herausfordernde Duelle. Beide agieren vermeintlich typisch asiatisch. Deren Spielweise kommt uns also etwas unorthodox vor. Es wird daher wichtig sein, unser Spiel durchzusetzen und unsere Linie zu halten. Das haben wir jetzt in Cadiz jeweils gut gemacht und über Kontrolle sichere Siege einfahren können. Wir erwarten bei der WM durchaus mehr Gegenwehr.

Bei der Fußball-WM gab es eine Diskussion um die Kapitänsbinde und Statements zur Menschenrechtslage. Ist das bei euch auch Thema?
Die Mannschaft hat sich gemeinsam dafür entschieden, dass unser Kapitän Mats Grambusch mit der Regenbogen-Binde auflaufen will. Also mit der richtigen Regenbogen-Binde, nicht mit dieser kapitulierenden Kompromiss-Lösung, um die es bei der Fußball-WM ging. Dies ist von der FIH glücklicherweise auch schon bestätigt. Ich bin froh, dass wir als Team ein gemeinsames Statement für Vielfalt, Offenheit und Diversität setzen und damit gerade nach den Diskussionen der vergangenen Wochen auch eine Haltung demonstrieren. Es ist ja geradezu paradox, dass erhebliche Teile des Sports, der eine enorme verbindende Wirkung haben kann, derart große Probleme damit hat, Minderheiten zu integrieren.

Fotocredits: WORLDSPORTPICS/FRANK UIJLENBROEK

Es wurde auch diskutiert, ob im Sport politische Statements angemessen sind.
Es gibt seit vielen Jahren aus gutem Grund wichtige und starke Kampagnen gegen Rassismus, die in Stadien getragen werden. Sind das politische Statements? Für mich ist der Einsatz für Menschenrechte und für Gleichheit eine Haltung und übrigens - in einer gewissen Position als exponiertes Vorbild - auch eine Verpflichtung. Wenn dem aber so ist, dass ein Banner gegen Rassismus ein politisches Statement sei, dann ist Sport ja ganz offensichtlich unbedingt politisch. In diesem Zusammenhang muss Sport sogar politisch sein. 

Warum sind solche Zeichen aus deiner Sicht so wichtig?
Wenn sich queere Menschen, also alle, die eine nicht-heterosexuelle Orientierung haben, ausgerechnet und insbesondere im Sport verstecken müssen und ihre persönliche Identität nicht ausleben können, dann ist das nicht weniger als eine Schande für unser Sport-System. Diese Teile des Sports hinken der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Es müsste umgekehrt sein.
Hier kommen Nationalspieler ins Spiel. Sie sind nämlich Vorbilder. Und Vorbilder können etwas bewirken. Wenn diese Vorbilder nur dann ein Banner durchs Stadion tragen, wenn es Applaus gibt und alles möglichst konsequenzenlos ist, dann ist das keine Haltung, sondern PR. Das ist der Grund, warum eben gewisse Teile des Sports der gesellschaftlichen Entwicklung meilenweit hinterherlaufen. Umso mehr bin ich stolz darauf, dass Mats und die Honamas ein Zeichen setzen.

Zurück zur Hockey-WM. Bist du auch aufgeregt? Spürst Druck? Deutschland hat lange keinen Titel mehr geholt und es ist dein erstes großes Turnier als A-Kader Trainer.
Ich freue mich vor allem auf das Turnier. Eine WM in Indien ist für jeden, der Spaß an Hockey hat, ein wirklich außergewöhnlich schönes Erlebnis und eine Gelegenheit, die du nur mögen kannst. Zudem ist es nach einem Jahr Amtszeit unser erstes gemeinsames großes Turnier. Wir haben schon große Lust zu zeigen, was wir drauf haben und wollen schlichtweg gutes Hockey zeigen, dass auch eine möglichst hohe Wahrscheinlichkeit auf Erfolg hat. Ich bin schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Komplexität von Teamsport und solchen Turnieren derartig hoch ist, dass nicht alles steuerbar ist. Es gibt locker fünf Teams, die an einigermaßen guten Tagen jeden schlagen können. Und dahinter sind auch Geheimfavoriten, die mit einem Lauf ebenfalls um den Titel mitspielen. Also: Druck verspüre ich dadurch keinen. Aber wir wollen natürlich zeigen, dass die Honamas noch mehr drauf haben, als die Ergebnisse der letzten Jahre gezeigt haben.

Deine Athelten sagte: Du müsstest dir maximal 30 Minuten Video eines gegnerischen Teams angucken und wüsstest eine Taktik, um den Gegner zu bezwingen... Wie bereitest du dich auf deine Spiele vor und stimmt das?
Erstmal vielen Dank an an die Jungs für die netten Worte. Vielleicht nehme ich mir auch nur die 30 Minuten, weil ich entgegen der allgemeinen Einschätzung bei Weitem nicht so ein Video-Nerd bin wie kolportiert wird. Zum Glück haben wir dafür bei den Honamas einen herausragenden Staff, der extrem viel vorbereitet und dann dem Team und mir in mundgerechten Happen vorlegt. Jamilon Mülders, unser Assistent, sowie unser Chef für Spielanalyse, Lucas Koch, sind bei uns die Köpfe für die Gegner-Vorbereitung, an der noch weitere Unterstützer hängen, die scouten oder uns komplexe Programme bauen. Die gucken sich wirklich jedes Spiel auf der Welt an, coden alles und jeden und versuchen aus der riesigen Daten-Menge das Wichtigste herauszufiltern und einen Plan zu schmieden. Dann kommen Pasha Gademan, ebenfalls Assistent, und ich ins Spiel und bauen mit dem gesamten Team gemeinsam den Plan fürs Spiel zusammen.

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