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Fotocredits: WORLDSPORTPICS/FRANK UIJLENBROEK

Das Sichtungssystem im Fokus

„Geschafft, nahezu alle Spieler dort zu haben, die diese Plattform brauchen“

13. October 2022

Nach der Premiere des sogenannten Herbstpokales, bei dem weibliche und männliche U16-Auswahlteams der fünf Bundesstützpunkte Hamburg, Berlin, Bayer, West und Baden-Württemberg, ergänzt noch durch ein „Team 6“ mit Jugendlichen ohne Stützpunktzugehörigkeit, in Köln zusammenkamen, ziehen die beiden Nachwuchs Chefbundestrainer des Deutschen Hockey-Bundes Bilanz. Im Gespräch mit DHZ-Redaktionsleiter Uli Meyer gehen Akim Bouchouchi (46; weiblicher Bereich) und Rein van Eijk (34; männlicher Bereich) nicht nur auf den ersten Herbstpokal ein, sondern erläutern auch generelle Fragen des Sichtungssystems.

Wie zufrieden sind die beiden Jugend-Chefbundestrainer mit der Premiere des Herbstpokals?

Rein van Eijk: Es war auf jeden Fall ein gelungener Start. Wir hatten ein Wettkampfformat mit sechs konkurrenzfähigen Mannschaften. Die Ergebnisse waren alle eng, das war super, auch das „Team 6“ mit Spielern aus Regionen ohne Stützpunkt hat funktioniert. Das Format mit nur sechs Mannschaften gab insgesamt auch mehr Freiheiten. Wir sind zu einigen guten Erkenntnissen gekommen, was die Spieler angeht. Das Miteinander war sehr positiv, auch durch viel Unterstützung von Rot-Weiss Köln als Ausrichter war es schon mal ein guter Anfang. Natürlich gibt es einiges, was wir fürs nächste Mal überdenken und verbessern können. Es wäre schön, wenn künftig beim Herbstpokal noch mehr die individuelle Leistung der Spieler im Vordergrund steht und nicht das Funktionieren einer Mannschaft.

Akim Bouchouchi: Wir haben es geschafft, nahezu alle Spieler dort zu haben, die diese Plattform brauchen, und haben größtenteils eine gute Abstimmung mit den Landes- und Stützpunkttrainern gefunden, wer von den Spielern diese Plattform vielleicht nicht braucht. Es war ja im Vorfeld die Sorge mancher Landestrainer, dass sie nicht genau wussten, wie sie ihre Kader für dieses Turnier zusammenstellen sollen. Die Konstellationen der Teams waren noch teilweise sehr unterschiedlich, aber die Ergebnisse trotzdem immer eng. Und wahrscheinlich alle haben jetzt nach der Premiere eine gute Vorstellung davon, wer sich dort eigentlich zeigen soll: potenzielle künftige U16-Kaderspieler und der ein oder andere ältere, der die Chance bekommen soll, sich nochmal zu zeigen. Wir haben an dem Wochenende festgestellt, wieviel Spaß es gemacht hat, ein Format zu haben, das nicht zu vielen formalen Regeln unterliegt und wo es sogar innerhalb des Formats möglich war, eine Idee schnell umzusetzen, ohne dies mit einem Riesengremium abstimmen zu müssen. Wir wollen das Format ja auch nutzen, um Dinge einzuführen und auszuprobieren, die bestimmte Entwicklungen fördern.

Nochmal zum Personal: Gab es konkrete Vorabsprachen mit den Landes- und Stützpunkttrainern, welche Spieler die Bundestrainer beim Herbstpokal sehen wollen und
welche nicht?

AB: Bei mir schon. Es war ja klar, dass dieses Turnier für Landeskader vorgesehen ist und nicht für NK2-Kaderleute, also U16-Nationalspieler, die man schon bei vielen Maßnahmen davor gesehen hat. Mit einigen Verbänden gab es da eine sehr enge Abstimmung, andere haben da erstmal einen eigenen Versuchsballon gestartet. Ich habe aber keine
Riesenüberraschungen erlebt.

RvE: Bei mir war es ähnlich. Wir haben im Vorfeld geklärt, wen wir unbedingt sehen wollen und wen wir nicht zwingend zu sehen brauchen. Wenn die gesetzten Leute mal nicht spielen, ist es für andere vielleicht nicht mehr so schwierig, die Chance zu ergreifen und sich selbst zu präsentieren. Das war ja auch ein Grund, warum wir diesen Personalwunsch geäußert haben. Das kann grundsätzlich dem Wettkampfformat zugutekommen. 

Können Sie nochmal für alle, die nicht ganz so im Thema drin sind, die Grundidee des Herbstpokals erläutern?

AB: Es sind im Wesentlichen vier Punkte: Die bisherige Länderpokal-Endrunde war für alle Beteiligten wie eine Deutsche Meisterschaft mit all seinen strengen Formalien. Das wurde so betrachtet und auch so gespielt. Für die Verbände ging es da eigentlich nur ums Gewinnen, nur zum Teil um die Entwicklung der Spieler und nicht immer um attraktives Spiel. Taktisch war fast alles auf das Erzielen von Ergebnissen abgestellt. Zweitens haben wir festgestellt, dass wir bei der bisherigen Länderpokalendrunde zum Großteil Spieler gesehen haben, die wir alle schon kennen und oft genug übers Jahr auch schon gesehen haben. Das hat uns gar nichts mehr gebracht, und auch aus Spielersicht musste man sich die Frage stellen, ob die nach diversen Länderspielen im Lauf des Jahres dann im Herbst noch so ein Event brauchen. Dritter Punkt: Im Sinne der Sichtung war der Modus ungerecht, schließlich hatten sich nur sechs Verbände für die Endrunde qualifiziert, sechs andere nicht. Also fehlte ein ganzer Teil an relevanten Spielern. Der vierte Punkt war die Häufung von Events im Herbst mit DM- Zwischen und -Endrunden rund um den Pokaltermin. Das hat man manchen unserer Nationalspieler massiv angemerkt, dass das insgesamt zu viel war. Dies alles hat dazu geführt, dass wir die Dinge umstellen wollten mit drei Zielen: Erstens: Alle relevanten Spieler sollen an einem Ort sein, wobei relevant eben die sind, die wir noch nicht
so gut kennen. Zweitens: ein Format, das belastungsverträglich ist. Drittens: ein Format, bei denen wir weitgehend die Regeln bestimmen können, immer ausgerichtet an der Frage: Was ist für die Entwicklung der Spieler wichtig? Denn dieser Herbstpokal ist kein reines Sichtungsturnier, sondern soll ein Turnier sein, wo Spieler sich entwickeln können und die Trainer ihre Spieler entwickeln können.

RvE: Ich kann mich den Ausführungen von Akim nur anschließen.

Fotocredits: WORLDSPORTPICS/FRANK UIJLENBROEK

AB: Wichtig ist auch, dass das ein gemeinsamer Treffpunkt auch für alle relevanten Partner rund um unsere Athleten war. So wollen wir solch ein Event nutzen, um uns mit den
Schiedsrichtern und dem Jugend-SRA abzustimmen und eine gemeinsame Idee von attraktivem Hockey zu entwickeln. Auch die Landes- und Stützpunkttrainer und die U16 -Bundestrainer gehören dazu und können ihre Ideen einbringen. Der Austausch untereinander war bei dieser Premiere noch nicht zu groß, aber es war doch ein wichtiger
Anstoß für die Zukunft, nach Möglichkeiten zu schauen, wie wir unsere Spieler noch weiter voranbringen können.

Gibt es schon konkrete Dinge, die beim nächsten Mal anders laufen sollen?

RvE: Vielleicht ist es wichtig, dass wir im Vorfeld noch mehr mitgeben, wie unsere Wunschvorstellung von attraktivem Hockey aussieht. Und dass wir definieren, was für uns
attraktives Hockey ist. Natürlich können da auch andere ihre Ideen eingeben.

AB: Es soll eine Plattform sein, die attraktiv ist und auch auf internationales Hockey vorbereitet. Wir erleben es immer wieder, wenn wir aus unserem „deutschen Hockey“ kommen und mit unseren Auswahlteams international auftreten, dass das eine massive Umstellung für unsere Leute bedeutet. Dort wird von den Schiedsrichtern viel mehr laufen gelassen, als wir das hierzulande gewohnt sind, und das Spieltempo wird permanent hochgehalten. Das wäre ein Auftrag an unsere Schiedsrichter und Trainer, mehr in diese
Richtung zu gehen.

Der Herbstpokal ist ein Baustein von vielen im Sichtungssystem. Was gehört noch dazu? Und wie gut funktioniert das Ganze?

RvE: Ich stamme bekanntlich nicht aus Deutschland, kann aber gerade deshalb mit einer gewissen Außenansicht sagen, dass das deutsche Sichtungssystem wirklich außergewöhnlich gut ist, was uns auch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Nationen verschafft. Ich glaube nicht, dass es viele Spieler gibt, die wir nicht in unserem System haben, die wir aber aufgrund ihres Talentes eigentlich drin haben sollten. Wir sichten sehr ausführlich, neben dem erwähnten Herbstpokal noch bei den Deutschen Meisterschaften, den Länderpokalen (jeweils Feld und Halle) und der Nachsichtung im Herbst. Die Landessichtungen haben wir vor zwei Jahren zusammen mit dem IAT (Institut für Angewandte Trainingswissenschaft) neu strukturiert. Das gibt uns jetzt einen noch besseren Vergleich der Kompetenzen der Spieler und auch zwischen den Landesverbänden.

AB: In der Grafik sind alle Elemente übersichtlich aufgeführt, wie aus einem jungen Talent vielleicht mal einen Olympiateilnehmer werden kann. Es ist zu betonen, dass es immer eine Chance gibt für Spieler, ins System reinzukommen, selbst noch für einen Ü20-Spieler über
die Stützpunkte. Wir sind da sehr offen und gut vernetzt, das ist eine Stärke des engmaschigen Systems. Wichtig ist auch, dass es zwei Schienen gibt: Sichtung und Entwicklung. Gerade bei den Landessichtungen als Herzstück unseres Sichtungswesens wollen wir nicht nur schauen, wer gut ist, sondern auch darstellen, welche Kompetenzen nötig sind, um mal Nationalspieler zu werden.

Das System der Bundesstützpunkte, die im Zuge der DOSB-Leistungssportreform eingeführt wurden, gibt es im Hockey erst seit wenigen Jahren. Unterstützt es Ihre Arbeit als Bundestrainer?

AB: Die Stützpunkte sind ja der Versuch einer Antwort auf die zentralisierten Systeme anderer Nationen. Idealerweise stellen schon die Landesverbände ein Art Stützpunkt dar, die nicht nur die Vorbereitung ihrer Landesauswahlen betreiben, sondern für die individuelle Entwicklung ihrer Talente da sind. Darüber kommen dann die Bundesstützpunkte, wo sich alles etwas mehr zentralisiert, aber eben nicht so krass wie bei anderen Hockeynationen. Ziel ist es, auf allen Ebenen die Bedingungen so zu verbessern, dass der Spieler eine umfassende Betreuung bekommt in allen möglichen Bereichen und dass eine gute Abstimmung zwischen den ganzen Schnittstellen besteht. Der Spieler soll profitieren, er soll Klarheit bekommen, wie sein Training aussieht, seine Woche. Das ist die Herausforderung und das Ziel.

RvE: Grundsätzlich erleichtern die Bundesstützpunkte unsere Arbeit schon, die Athleten viel mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Die Spieler haben eine Bezugsperson in ihrer Nähe. Der Austausch ist erleichtert. Es läuft vielleicht noch nicht überall ganz reibungslos, aber der Ansatz ist da.

AB: Wir versuchen, im Hockey die Entwicklung zu individualisieren, wie das im Übrigen alle Mannschaftssportarten bei sich tun. Weil wir merken, dass nur dann mit den Spielern nochmal ganz viel passiert.
Die Corona-Zeit hat mir persönlich gezeigt, dass unsere Athleten von der längeren Wettkampf-Zwangspause, die durch individuelles Training überbrückt wurde, tatsächlich
eher profitiert als verloren haben. Die jüngsten Topplatzierungen (U21-Vizeweltmeister weiblich und männlich; U21-Europameister weiblich und Vizeeuropameister männlich; U18-Europameister weiblich und männlich) deuten jedenfalls darauf hin, dass uns das eher geholfen als geschadet hat. Ich wünsche mir, dass wir viel mehr im Sinne der Entwicklung auf die Athleten schauen und weniger auf frühzeitige Wettkampfergebnisse.

Ist das Hauptziel der leistungssportlichen Nachwuchsarbeit immer noch so definiert, dass Sie möglichst viele gut ausgebildete Leute von unten in die A-Kader liefern sollen? Oder ist das nur eines von vielen Zielen?

RvE: Wir brauchen eine Richtung, wo es hingeht. Das System ist schon darauf angelegt, dass wir von der Jugend dem A-Kader zuliefern. Das ist immer noch das Hauptziel, aber einher gehen damit auch weitere Ziele.

AB: Ich würde „möglichst viele“ gerne durch „schneller“ ersetzen. Es ist unser Auftrag, es hinzubekommen, dass die jungen Toptalente noch schneller ganz oben ankommen. Der Sprung von der U21 in den A-Kader ist immer noch recht groß, wir bekommen das immer mal wieder als Rückmeldung. 

Erfolgreich zu sein mit den U18- und U21-Nationalteams ist schön, aber nur nebensächlich?

RvE: Nein. Gewinnen muss man auch lernen. In Nachwuchsteams zu lernen und zu erleben, wie eine Mannschaft funktioniert und wie man gewinnt, ist auch wichtig und Teil der Ausbildung. Deswegen ist unser Anspruch, eine maximale Mannschaftsleistung bei solchen
internationalen Turnieren zu erreichen.

AB: Man muss feststellen, dass die U21-Kader inzwischen die wenigsten Lehrgangstage im Jahr aller unserer Nationalteams haben. Wegen Bundesliga, dem Kalender der A-Kader und auch finanziellen Zwängen können wir gar nicht mehr machen. Das waren vor ein paar Jahren noch deutlich mehr Maßnahmen mit den C-Kadern. Das bedeutet, dass alle individuelle Ausbildung außerhalb der Lehrgänge stattfinden sollte, um sich in den wenigen gemeinsamen Tagen ganz um das Mannschaftsspiel kümmern zu können.

Fotocredits: Fritz Ebeling/Berlin

Abschließend noch ein ganz anderes Thema: Wie stehen Sie als Bundestrainer zum Thema der Konzentration der jungen Talente auf große Vereine, einhergehend mit
Vereinswechseln?

AB: Erstmal sollte man mit dem Eindruck aufräumen, dass wir Trainer von Spielern aktiv deren Wechsel von kleineren zu größeren Vereinen einfordern. Das erste Mittel sollte immer sein, das Umfeld des Spielers dort versuchen zu verbessern, wo er sich befindet, so dass ein Vereinswechsel gar nicht notwendig ist. Wenn beispielsweise jemand mehr als eine Stunde fahren muss, um auf hohem Niveau bei einem stärkeren Verein zu trainieren zu können, statt zu seinem Heimatclub vor der Haustüre zu gehen, dann kann man sich ausrechnen, dass das Trainingsniveau vielleicht größer wird, aber der Umfang dagegen kleiner. Die vielen
Stunden auf der Autobahn, die sich bei dreimal Training unter der Woche und Spiel am Wochenende summieren, stecken viele in Verbindung mit Schule etc. erfahrungsgemäß
nicht gut weg und sind im Grunde verlorene Zeit. Die man bei einer sinnvollen Lösung vor Ort auch bei kleineren Standorten wiederum für gezielte individuelle Förderung eines Talentes einsetzen könnte. Dafür muss man erst mal die gemeinsamen Optionen vor Ort diskutieren. Manchmal kann es sein, dass alle Beteiligten feststellen, dass ein Spieler eine Veränderung braucht, um den nächsten Schritt seiner Entwicklung gehen zu können. Wenn dann in diesem Sinn wirklich ein Vereinswechsel sinnvoll ist, ist es ganz wichtig, dass das in einem guten Prozess stattfindet, bei dem alle Beteiligten eingebunden werden.

RvE: Mir geht, das muss ich einfach mal so deutlich sagen, die ganze Wechselei auf den Keks. Es macht in vielerlei Hinsicht unseren Sport kaputt. Wir müssen uns bewusst werden, dass der sportliche Wettbewerb sich immer mehr zentriert, das ist in einem gewissen Maße normal, findet aber aktuell viel zu früh statt. Wenn nur die großen Talente, also unsere Kader- und Nationalspieler, wechseln würden, dann wäre es ja vielleicht noch verkraftbar. Aber es werden ja immer gleich einige weitere mitgerissen. Was wiederum in den ganzen Verein ausstrahlt. Irgendwann gibt es keinen Konkurrenzkampf mehr in den Städten und Landesverbänden, wenn sich alles auf ein paar wenige konzentriert, die dann aber auch nicht allen gerecht werden können. Wir sind im Hockey eine Spielsportart, keine Trainingssportart. Wenn es mal keine Spiele mehr gibt, lohnt sich auch irgendwann kein Training mehr. Ich bin da voll bei Akim. Wir sollten als DHB wie auch als Landesverbände
immer versuchen, das Umfeld und die Situation bei den kleineren Vereinen zu stärken. Und wir als Bundestrainer wollen diesen Prozess gerne moderieren, werden aber oft vor vollendete Tatsachen gesetzt.

Fotocredits: Axel Kaste/Bremen

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