
Ohne gemeinsames Foto: Gleichzeitig erfolgreich – voneinander getrennt
19. May 2021
An einem Tag Deutsche Meister: Aber gesehen haben sich Selin und Timur Oruz in Mannheim nicht.
11.05.2021 – Hockey-Endrunden schreiben ihre Geschichten, Corona schreibt seine eigenen. Wenn beides – wie vergangenes Wochenende in Mannheim – aufeinandertrifft, drohen aber manche Geschichten einfach unter den Tisch zu fallen. So geschehen mit etwas, das so nicht alle Tage passiert: Dass nämlich zwei Geschwister in zwei Teams den DM-Titel holen. Gelungen ist das in der Mammutsaison 2019–21 Selin (Düsseldorfer HC; Foto nach ihrem Titel-entscheidenden Penalty im Jubel mit Lilly Stoffelsma; © WORLDSPORTPICS.COM · Frank Uijlenbroek) und ihrem Bruder Timur Oruz (Rot-Weiss Köln; Foto mit Teamkollege Christopher Rühr und Trainer André Henning; © 265-IMAGES.COM · Dirk Markgraf).
Zuletzt konnten die Geschwister Franzisca und Tobias Hauke 2014 beide blauen Wimpel in eine Familie holen: sie mit Rot-Weiss Köln, er mit dem Harvestehuder THC. Diesmal gelang das den Geschwistern Oruz. Aber anders als bei den Haukes 2014 merkte es nun (fast) niemand – und ein gemeinsames Titelbild wie auf der Deutschen Hockey-Zeitung vom 8. Mai 2014 gab es schon mal gar nicht.
Schuld daran war das sinnvolle, aber strenge Hygienekonzept, das Corona dem organisierenden Mannheimer HC aufzwang: Der Spielplan war entzerrt, die Mannschaften begegneten sich nicht und die Aktiven durften außerhalb ihrer Spiele auch nicht auf der Tribüne sitzen. Zudem spielte Selin Oruz ihr Halbfinale am Samstag schon um 10 Uhr, Timur stand zum Anpfiff um 16 Uhr bereit. „Wir waren auch in einem anderen Hotel untergebracht“, erzählt Selin Oruz, die ihren Bruder sonst vielleicht noch beim Frühstück hätte sehen können. Aber auch diese Möglichkeit blieb aus. Timur versuchte zumindest am Samstag noch, ab und zu ins Halbfinale seiner Schwester reinzuschauen: „Aber ich bin kein großer Freund davon, habe da schon versucht, mich auf unser Spiel vorzubereiten. Trotzdem habe ich mich gefreut, dass die Mädels das geschafft haben.“ Selin hatte es da etwas leichter: „Nach dem frühen, gewonnen Halbfinale hatten wir im Hotel einen Beamer aufgebaut und ich konnte mir Timurs Halbfinale ganz entspannt anschauen.“
„Noch mal eine Nummer schlimmer“, beschreibt Timur Oruz den Sonntag, als zwischen dem Anpfiff des Damenfinals und seinem Endspiel nur drei Stunden lagen: „Wir waren da schon in der finalen Vorbereitung und die Ansage im Bus vom Hotel zum Platz war: kein Damenfinale.“ Nur der Mannschaftsbetreuer hatte vorne in der ersten Reihe das Tablet an und verfolgte, was auf dem Platz geschah. „Unser Videomann sollte mir sagen, ob der Siebenmeter reingeht [Anm. der Red.: Düsseldorfs Luisa Steindor vergab gegen MHCs Lisa Schneider]. Für den entscheidenden Penalty bin ich dann doch nach vorne gehopst. Danach hatte ich schon Gänsehaut, ich wusste ja, was das für Selin bedeutete.“ Tatsächlich hatte der gebürtige Krefelder im Diensten von Rot-Weiss dann noch direkt aus dem Bus heraus seiner Schwester gratuliert. Und das „etwas andere Final Four“ ging im Warm-up weiter: „Während wir uns warmmachten, machten die DHC-Damen auf dem Nachbarplatz einen Mix aus Feiern und Auslaufen. Auch ohne Corona wäre ich da nicht hingelaufen, aber zumindest war ich Selin da physisch am nächsten. Das war schon total komisch.“ Einen Umstand, den Selin bestätigt: „Wir waren noch länger auf der Anlage, aber es ist schon was anderes, wenn du das Finale auf der Tribüne mit einem Getränk in der Hand sehen kannst.“
Wer nun denkt, Selin Oruz hätte wie am Tag zuvor wenigstens ihrem Bruder nach getaner eigener Arbeit im Livestream zuschauen können, sieht sich getäuscht. Denn als Mannschaftskapitänin hatte Selin auf der Rückreise gleich die nächste Pflicht zu erfüllen: „Ich musste fahren und meine Beifahrerin hatte den Livestream an. Kurz nach seinem Spiel habe ich dann über die Freisprechanlage mit Timur telefoniert und ihm gratuliert.“
„In diesen Zeiten ist das so“, erkennt Selin Oruz an. Sie will die Erfahrung 2021 in Mannheim auch gar nicht mit 2016 vergleichen, als beide mit der Nationalmannschaft bei Olympia in Rio die Bronzemedaille holten: „Das war unter der olympischen Atmosphäre ein ganz anderes Erlebnis. Der DM-Titel hat für mich zwar einen ganz besonderen Stellenwert, es wäre aber vermessen, beides miteinander zu vergleichen“ Auch Timur zieht keine Parallelen zu Olympia 2016: „Da konnte ich Selins Spiel um Platz drei live sehen, in Mannheim war das nicht der Fall. Ich konnte sie nicht in den Arm nehmen. Das ist schon der krasseste Unterschied, wir haben uns bis jetzt quasi nicht gesehen.“ Und es bleibt fraglich, wann es dazu kommen kann: Ob beide aus Köln und Düsseldorf zum Vatertag ins heimische Krefeld reisen, ist noch nicht geklärt. Und auf jeden Fall werden beide Pokal oder Wimpel für ein nachträgliches Siegerfoto wohl nicht dabeihaben. (ao)